denkengehen: Das Gehen befördert das Denken.

Eine lange Geschichte beginnt vor ein paar Millionen Jahren. So lange gehen Menschen und ihre Vorfahren schon. Der Mensch ist immer schlauer und schlauer geworden – und das ist kein Zufall. Wer geht, kann mehr sehen, er hat die Hände frei für komplexe Tätigkeiten, und er bewegt sich so sparsam fort, dass er noch Energie übrig hat – zum Beispiel für ein großes Gehirn. Hätte die Evolution uns nicht zum Gehen verholfen, so könnten wir wahrscheinlich gar nicht denken.

Tatsächlich vermuten Evolutionsbiologen, dass wir unseren Grips erst so richtig in Schwung bringen konnten, nachdem wir uns auf die Hinterbeine gestellt hatten. Dann hatten wir die Hände frei für motorisch anspruchsvolle Tätigkeiten und eine bessere Aussicht auf die Welt um uns herum. Das zentrale Steuerorgan bekam mehr zu tun und wuchs an seinen Aufgaben.

Unser Zentralorgan macht nur rund zwei Prozent des Gesamtgewichts aus, beansprucht aber 20 Prozent des Energieumsatzes. Würden wir nicht so minimalistisch auf zwei Beinen durch die Welt wandern, könnten wir uns so viel Hirnschmalz gar nicht leisten.

Aber damit ist die Geschichte vom Gehen und vom Gehirn noch nicht zu Ende. Gehen ist eine motorisch anspruchsvolle Tätigkeit, sie erfordert Koordination und Gleichgewichtssinn. Während andere Säugetiere fast von Geburt an durch die Welt springen, brauchen menschliche Kinder ein Jahr, bis sie sich auf zwei Beinen bewegen können.

Eine Besonderheit des Zusammenspiels zwischen menschlichem Gehirn und Körper ist die Lateralisierung: Die Aufteilung von Prozessen auf die rechte und linke Gehirnhälfte wird als Lateralisierung bezeichnet. Die rechte Gehirnhälfte kontrolliert die linke Körperhälfte und umgekehrt. Beim Gehen und bei anderen beidseitigen Bewegungsarten wie Kraulschwimmen und Radfahren müssen sich die Hemisphären daher eng absprechen. Sie übernehmen abwechselnd die Kontrolle über die Bewegungen und die Verarbeitung von Wahrnehmungen. Immer wieder verschieben sie Informationen von einer Seite zur anderen. Dabei werden Ideen und Erinnerungen gefiltert, sortiert und neu zusammengefügt (ZEIT Wissen Nr. 3/2017, 25. April 2017).

Es ist hilfreich seine Sensorik zu aktivieren, um sich zu öffnen für von außen kommende Impulse und sich diesen zu überlassen, um für Zufälle und sich überraschend zeigende Anregungen empfänglich zu sein. Im Hineingehen in die Bewegung befreit sich der innerlich Bewegte von der Last, die seine Bewegungsfreiheit hindert. Denkengehen ist auch eine Einladung an den Zufall und folgt damit keiner Gesetzmäßigkeit (Bertram Weisshaar, einfach losgehen).

Jean-Jacques Rousseau: „Im Gange liegt etwas, das meine Gedanken weckt und belebt; verharre ich auf der Stelle, so bin ich fast nicht imstande zu denken: mein Körper muss in Bewegung sein, damit mein Geist in ihn hineintritt.“

denkengehen: Der Mensch kann beliebig lange gehen …

Stolz darauf zu sein, aufrecht zu gehen, das wirkt auf den ersten Blick ein bisschen lächerlich. Es kann ja jeder. Allerdings ist Gehen biomechanisch gesehen eine Sensation. Kein anderes Lebewesen in unserer Gewichtsklasse bewegt sich sparsamer fort. „Gemessen an Tieren gleicher Größe, gibt es keine effizientere Fortbewegungsart“, sagte der britische Biomechaniker Robert McNeill Alexander. Einen ebenen Kilometer zu gehen kostet Homo sapiens nur so viel mechanische Energie, wie ein Stockwerk Treppen zu steigen. Wer stehen bleibt und sich ein bisschen aufregt, verbraucht mehr.

Einmal in Bewegung gesetzt, tickt unser Gehapparat gleichmäßig wie ein Uhrwerk. Mit jedem Schritt wird ein Teil der Vorwärtsenergie in Sehnenspannung und einem sanften Hub der Körpermasse zwischengespeichert, dann fast verlustfrei in Vortrieb zurückverwandelt. Weil wir von der Ferse bis zu den Zehen abrollen, müssen wir kaum die Knie beugen. Die Beine schwingen wie Uhrpendel unter dem Rumpf durch. „Das Pendelprinzip ist das Geheimnis unseres Gangs“, sagt McNeill Alexander. Bei leichtem Gefälle geht man von selbst. Unsere Sehnen federn so gut wie Gummiseile, unsere Gelenke gleiten sanfter als Industrielager. „Der Reibungskoeffizient von Knorpel auf Knorpel übertrifft jedes technische Material“, sagt Wilfried Alt, Bewegungsforscher an der Universität Stuttgart.

Dabei galt der menschliche Gang unter Evolutionsbiologen lange Zeit als Kompromisslösung. Sie dachten, unsere Vorfahren hätten sich in die Vertikale erhoben, um eine bessere Aussicht oder die Hände frei zu haben. Aber womöglich entsprang die Gattung Homo dem evolutionären Druck zu sparsamer Fortbewegung: „Der aufrechte Gang war für sich Grund genug“, sagt Wilfried Alt. „Werfen und Werkzeuggebrauch hat der Mensch erst viel später gelernt.“

Das menschliche Gehirn verschlingt fast ein Fünftel des gesamten Ruhe-Energieumsatzes seines Trägers. Im Austausch für so viel Denkkapazität mussten wir körperlich mit einem Sparmodell vorliebnehmen. Unsere Kreislaufkapazität reicht nur noch aus, um die Beine voll in Aktion zu halten. Wenn wir zusätzlich die oberen Gliedmaßen bewegen, beispielsweise beim Ski-Langlauf, müssen wir unter der Gürtellinie bremsen. „Wir sind nicht nur vom Körperbau her Zweibeiner, sondern auch vom Stoffwechsel her“, sagt der Sportmediziner Hans Hoppeler von der Universität Bern.

Gehen ist gerade das Tempo, für das der Mensch gemacht ist. Seine Mechanik und sein Stoffwechsel sind wie geschaffen dafür, immer weiterzugehen. Wer rennt, wird irgendwann von der Ermüdung seiner Muskeln gestoppt. Gehen hingegen können Menschen praktisch beliebig lange. Und wenn das Ambiente stimmt, wird es auch nicht langweilig. Sinne und Gehirn nehmen die wechselnde Szenerie beim Gehen auf, ohne davon überwältigt zu werden (ZEIT Wissen Nr. 3/2017, 25. April 2017).